Samstag, 22. November 2014

Anarchie in der Nachkriegsphase

Keith Lowe schildert in "Der wilde Kontinent" Rache, Vertreibung und ethnische Säuberungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die aus verständlichen Gründen lange nur recht eingeschränkt öffentlich angesprochen wurden.

In seinem neuen Buch spannt Keith Lowe einen weiten Bogen. Dieser reicht von den überlebenden jüdischen Lagerhäftlingen und Zwangsarbeitern über die Vertreibung der Deutschen, die Vergeltungsmaßnahmen an deutschen Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und an Kollaborateuren in den von Deutschland besetzten Ländern, weiter über die ethnischen Säuberungen in Polen, der Ukraine und auf dem Balkan bis hin zu den Bürger- und Partisanenkriegen im Zuge der gewaltsamen Unterwerfung Osteuropas durch die Sowjetunion. Abgrundtiefer, weltanschaulich und nationalistisch aufgeladener Hass und grenzenloses Racheverlangen waren der Antrieb dieser Mordlust. [...] 
Ein polnischer Partisan beschreibt die Rachespirale des Gewaltkonflikts: "Sie hatten zwei Nächte vorher sieben Männer getötet. In dieser Nacht töteten wir sechzehn von Ihnen. Eine Woche später antworteten die Ukrainer, indem sie eine ganze polnische Siedlung auslöschten, die Häuser anzündeten, alle Bewohner töteten, die nicht hatten fliehen können, und die Frauen vergewaltigten, die ihnen in die Hände fielen. Zur Vergeltung griffen wir ein noch größeres ukrainisches Dorf an, und diesmal töteten zwei oder drei Mann aus unserer Einheit auch Frauen und Kinder. Die Ukrainer rächten sich. So eskalierten die Kämpfe. Jedes Mal wurden mehr Menschen getötet, mehr Häuser angezündet, mehr Frauen vergewaltigt. Die Menschen stumpfen sehr schnell ab und töten, als hätten sie nie etwas anderes getan." (Peter Reichel: Zeit ohne Nachsicht, Die Welt, 22.11.14)

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