Freitag, 16. Oktober 2015

Woran sich Neil MacGregor in Deutschland erinnert

Neil MacGregorDeutschland.  Erinnerungen einer Nation Beck 2015

[...] Bei MacGregor hat sich nun das alte Reich, über das Generationen von Dichtern und Denkern gespottet oder geflucht haben, zum Vorbild eines dermaleinst geeinten Europas gemausert: "ein Netz gemeinsamer Auffassungen und Traditionen", die "wie ein Sicherheitsnetzwerk" wirkten, tolerant und liberal, antik-römisch und christlich-heilig, "eine sonderbare Art aristokratischer Republik", und was der Wunderdinge mehr sind. Die EU ihrerseits ist für den jüngst ernannten Intendanten des Berliner Humboldtforums "in gewisser Weise eine Neuauflage" dieses Gebildes, "im Wesentlichen nur eine Rückkehr zu einer Ordnung, die jahrhundertelang blühte", und der Euro mit seinen nationalen Sonderprägungen "irgendwie" ein Nachfolger jener Silbertaler, mit denen Kaiser Leopold, die Stadt Wismar und die Äbtissin von Quedlinburg seinerzeit den Markt überschwemmten.Aber nur irgendwie, im Wesentlichen, in gewisser Weise. 
Wer in der Bildergalerie klein- und großdeutscher oder gesamteuropäischer Kulturleistungen, die dieses Buch aufmacht, nach dem Ariadnefaden eines durchgängigen Denkmusters tastet, stößt immer wieder nur auf Bilder und Bonmots. Manche davon klingen sehr schön, wie das über Berlin, die Stadt, "die in Architekturen träumt", oder die Passage über Tischbeins Goethe-Porträt, "das unvergleichliche Bild von Deutschlands langer Liebesaffäre mit Italien".  [...](Rezension der FAZ vom 10.1015)

Indem er die oft gestellte Frage nach dem „Sonderweg“, nach der Heraufkunft des Nationalsozialismus, nach der einen und einzigen Logik unserer Nationalgeschichte einklammert, gewinnt Neil MacGregor die Möglichkeit, den Reichtum, die verblüffende Fülle, die Vielfalt des Begeisternden und des Schrecklichen darzustellen. 
Königsberg, Prag und Straßburg kommen ebenso zu ihrem Recht wie Johannes Gutenberg, der Nürnberger Schlossermeister Peter Henlein, wie die von den Nazis aus Deutschland vertriebene Keramikerin Grete Loebenstein, spätere Marks oder ein Leiterwagen der Flüchtlinge aus Hinterpommern. Wie beiläufig gelingen dabei immer wieder treffende Formulierungen: „Berlin ist eine Stadt, die in Architekturen träumt.“ De Gaulle soll sich beklagt haben über die Schwierigkeiten, ein Land zu regieren, dass 246 Käsesorten kennt. „Er hätte glücklich sein sollen darüber, dass er es nicht mit einem zu tun hatte, in dem es viel, sehr viel mehr Wurstsorten gibt“, heißt es unter der erhellenden Kapitelüberschrift „Ein Volk, viele Würste“. Und wohl auch sehr viele Biersorten. 
Wie die akademische Geschichtsschreibung zeichnet auch MacGregor ein überwiegend positives Bild des Heiligen Römischen Reiches, das borussische Historiker lange und folgenreich verspottet haben. Dem auf nationale Einheit und Fortschritt versessenen 19. Jahrhundert mochte es schwach, zersplittert und ineffizient erschienen. Heute schätzt man die Vielfalt, die Kunst des Aushandelns und der Kompromisse, die Schulung in Toleranz und geregelten Verfahren. Es gibt zur Zeit keine besser kulturhistorische Einführung in die deutsche Geschichte. An einigen Stellen aber wirken die vielen Geschichten nicht auserzählt, zu stark verkürzt, etwa im Fall der Währungsunion oder auch in den Passagen über den Palast der Republik. (Rezension der SZ vom 19.9.15)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen