Samstag, 14. November 2015

"Leerstellen" in literarischen Texten

Eine Erläuterung für ungeübte Leser

Gemeint ist, was "zwischen den Zeilen" steht, also das Unausgesprochene. Aber was unausgesprochen ist, muss man sich in jedem konkreten Fall erschließen. 

Und das heißt 

1. dass man einen Text lesen kann, ohne die vom Autor eingebaute Leerstelle überhaupt zu bemerken, 

2. dass jede Ausfüllung einer Leerstelle je nach Leser unterschiedlich ausfallen kann. (Von unausgefüllt über sehr präzis durchdacht bis zu haltlosen Spekulationen.)

Jetzt ein Beispiel: Wenn ein Autor darüber schreibt, dass ein junger Mann und eine junge Frau gemeinsamen einen erotischen oder gar pornographischen Text lesen, und dann fortfährt 
"An diesem Tage lasen wir nicht weiter ...", dann denkt sich wohl jeder Leser, der zumindest die Pubertät erreicht hat, das Gleiche. Aber nicht jeder Leser erkennt darin schon eine Begründung dafür, dass das Liebespaar in der Hölle ist. Dafür muss man schon wissen, dass zu Dante Alighieris Zeiten die Kirche sehr sexualfeindlich war. Das wissen freilich die meisten Leser ebenfalls. (Wenn dich die Beispielstelle interessiert: http://www.divina-commedia.de/la_divina_commedia/hoelle_005_la_divina_commedia.h...
Wenn in Fontanes "Irrungen Wirrungen" das 12. Kapitel schließt "Und sie schmiegte sich an ihn und blickte mit einem Ausdrück höchsten Glückes zu ihm auf." und das 13. Kapitel beginnt "Beide waren früh auf", dann ist ebenfalls nur ein geringer Interpretationsspielraum.
Aber Leerstellen sind nicht immer so einfach auszufüllen wie bei Auslassungen von Passagen, die als pornographisch aufgefasst werden könnten.
Berühmt sind Schillers Dramenschlüsse: "Dem Manne kann geholfen werden." "Dem Fürsten Piccolomini" "Der Lord lässt sich entschuldigen. Er ist zu Schiff nach Frankreich." (Zum Verständnis des Zusammenhangs musst du eine Suchmaschine heranziehen.) Hier liegt die Leerstelle am Schluss des Textes. Das gilt genauso für die Märchenformel "Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage".
Das muss für den Anfang genügen. Weitere Leerstellen musst du selber suchen.
So viel darf ich dir verraten: Leerstellen sind genau das, was gute Literatur ausmacht und Freude am Lesen erzeugt. Nicht alle Leerstellen freilich, sondern nur die, die nicht trivial ausgefüllt werden müssen.
Und noch eins: Lyrik ist voll von Leerstellen. Deshalb sind Gedichtinterpretationen im Deutschunterricht so beliebt: Weil sie darin schulen, Freude an Literatur zu entwickeln.

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